Wenn ich mit einem Philosophen an meinen drängenden Lebensfragen arbeite, sehe ich diese – vielleicht zum ersten Mal – aus verschiedenen Blickwinkeln. Oft hilft bereits das, mich von falschen Vorstellungen, die Geist und Kraft lähmen können, zu befreien. Ich ergründe, ob ich in für mich wichtigen Fragen widerspruchsfrei denke und was mein Denken für mich eigentlich bewirkt – ob es mich in die Lage versetzt, meine Aufgaben zu lösen, oder ob es mich lähmt.
Philosophieren ist nicht auf eine Schuldzuschreibung auf den Ratsuchenden hin ausgerichtet, nicht auf das, was ich angeblich falsch mache. Ich erkenne eigene Muster, aber sicher auch kritische Verursachungen ausserhalb meiner eigenen Person. Manche nennen die philosophische Praxis auch eine “rationale Therapie”. Das stimmt nicht ganz. Zwar ist philosophische Praxis rational und gründet auf Ihrer Vernunft, doch ich selbst spreche ungern von “Therapie”, denn Philosophie als Beratung richtet sich grundsätzlich an den gesunden Menschen. Mir persönlich ist es wichtig, dass das Gesellschaftliche (was ist eigentlich “normal”, was sind unsere Normen, warum halten wir etwas überhaupt für erstrebenswert?) mit-erkannt werden kann und der Ratsuchende sich mit seinen Nöten im Kontext seines Umfelds und der Postmoderne erfassen kann.
Philosophische Beratung bietet mehr als systemische Beratung: systemische Beratung ist in der Postmoderne und ihren Werten und Begriffen gebunden, die Philosophie jedoch blickt darüber hinaus in andere Epochen. Die Philosophie hat ein sehr langes Gedächtnis und dadurch viel Kritikvermögen. Philosophie erlaubt, aus dem Reichtum vieler Epochen zu schöpfen und dadurch Denkmuster zu spiegeln, um zu fragen: was will ich – was flüstert mir nur der Zeitgeist ein?